Bericht über ein Theaterprojekt in Mexiko
Teatro Taller Cholul, Yukatán
von Susanne Schwarz
Cholul, Yukatán, 11. Dezember 1991
Der Vorabend eines der wichtigsten mexikanischen Nationalfeiertage ist für die Jugendlichen der TheaterWerkstatt mit einem aufregenden Ereignis verbunden: Erstmals werden sie öffentlich in einer Theateraufführung auftreten. Sie haben es nicht leicht, denn dieser Tag wird vom lebhaften Rummel um den bevorstehenden Gedenktag für die „Virgen de Guadalupe“, der Schutzheiligen Mexikos geprägt, die am 12. Dezember 1531 im Viertel Guadalupe, dem heutigen Norden von Mexiko-Stadt, einem einfachen Bauern erschienen sein soll.
Kilometerlange Pilgerläufe und Buskolonnen im ganzen Land, Jahrmarktstreiben mit Feuerwerk, die Musik der Mariachi und die Heilige Messe gelesen zu Ehren Guadalupes bilden nicht nur den Auftakt zum Festtag einer Nation, sondern bestimmen im kleinen Dorf Cholul den Rahmen des dörflichen Theaterereignisses.
Freunde und Verwandte der Mitwirkenden helfen, die Aufmerksamkeit der auf dem Kirchplatz versammelten Bevölkerung zu lenken. Als Programmpunkt der Festlichkeiten versuchen wir, die Anwesenheit des Publikums zu nutzen.
Dreissig Jahre ist es her, dass in der alten Schule am Kirchplatz Theater gespielt wurde und nur wenige erinnern sich daran. Die Schwellenangst ist groß, da die Unverbindlichkeit des offenen Kirchplatzes mit der Geschlossenheit der einstigen Schulaula zu tauschen ist. Mit dem Mikrophon des Karussellbesitzers können wir unserem kulturellen Angebot Gehör verschaffen.
Eigentlich hatte die Gruppe mit dem Erlös aus Eintrittskarten gerechnet, um die Kosten für Kabel und Glühbirnen zu decken. Schnell wird dieser Gedanke verworfen. Die meisten Jugendlichen und Mütter mit mehreren Kindern zeigen vorsichtig Interesse, würden bei einem Eintrittspreis von 1000 mexikanischen Pesos (ca. DM -.60) jedoch verzichten. Schließlich füllt sich die Schulaula und als die Lichter gelöscht werde, bemerken wir mit Freude, dass noch ein Grüppchen Interessierter hinter den den letzten Stuhlreihen Stehplätze ergattert.
MENSCHEN UND IHRE THEMEN
Das erste Stück, „Francisca und der Tod“, verdankt Idee und Titel einer Kurzgeschichte des kubanischen Autors Jorge Emilio Cardoso, die ein Gruppenmitglied aus einer Zeitungsbeilage ausgeschnitten hatte. Bearbeitet und um einige Szenen ergänzt, mutet sie wie eine yukatekische Legende an. Der Tod fährt mit dem Stadtbus nach Cholul. Er hat an diesem Tag nur einen „Fall“: die alte Francisca. Diese jedoch entzieht sich dem anfangs zuversichtlichen Sensenmann, der im Verlauf des Stücks, stets auf den Spuren der alten Frau, von den Dorfbewohnern von einem Ort zum anderen geschickt wird. Schon vor dem Morgengrauen war sie aufgestanden, um ihre Hühner zu füttern, sodaß der Tod sie dort nicht mehr antraf. So weit er auch geht, zum Friedhof, wo sie das Grab ihres Mannes Blumen schmückte, zu ihrer Tochter ins benachbarte Dorf oder zum Bürgermeister, dem sie seine tägliche Ration Tortillas bringt, er kann diese Frau nicht einholen. Sie ist nach wie vor, eine in die Dorfgemeinschaft integrierte Persönlichkeit, die von früh bis spät Gutes tut und das Leben lebt.
Schon nach kurzer Zeit klagt der Tod über Blasen an den Füßen und verbrennt sich auf einer Waldlichtung, wo er Francisca beim Brennholzsammeln glaubt, an einem popox (sprich: ‚popósch‘, Nesselgewächs). Wieder ist er zu spät gekommen, während Francisca längst dem Ruf anderer Aufgaben gefolgt ist.
Nur ein kurzes, unerwartetes Wiedersehen mit der schönen Xtabay (sprich: ’schtabái‘), seiner Jugendliebe, versüßt dem Tod den bitteren Tag. Die Begegnung mit der Titelgestalt einer yukatekischen Legende ist einer der zahlreichen Einfälle der Mitwirkenden und Resultat vieler Improvisationen und Gespräche. Sie haben sich die in der Zeitung abgedruckte Geschichte zu eigen gemacht.
Nach einem anstrengenden Tag tritt der Tod seine Rückfahrt unverrichteter Dinge an. Francisca, so sagt sie selbst, ohne zu ahnen, welch unerwartetes Ende ihr dieser Tag hätte bringen können, hat keine Zeit zu sterben. Sie tritt im Stück nur am Anfang und am Ende auf. Im Gegensatz zum Tod erfährt sie eine Idealisierung, während jener, verlacht und profaniert, auf eine Position zurückgedrängt wird, die ihn in den natürlichen Kreislauf von Leben und Tod einordnet und ihm die tragische Dimension zu entziehen sucht.
KULTURELLE WURZELN
Die heutigen Bewohner Yukatáns sind die Nachfahren eines der bedeutendsten Völker Mesoamerikas, deren kulturelle Wurzeln sich im täglichen Leben auf vielfältige Art manifestieren. Ohne den Anspruch, weltanschauliche Vergleiche zwischen dem Weltbild der alten Maya und dem heutigen katholischen Glauben anzustellen, finden sich in diesem Stück doch Spuren beider Denkweisen.
Es erinnert an Glaubensvorstellungen aus prähispanischer Zeit. Hinweise auf die Bedeutung des Todes im Weltbild der klassischen Maya finden sich im Popol Vuh, dem „Buch des Rates“, wo in vielen Geschichten auf die Beziehung zwischen Leben und Tod eingegangen wird. Auch in vielen anderen Mythen rund um den Globus reisen die Protagonisten zwischen der Welt der Menschen und der Unterwelt hin und her.
Der Glaube an übernatürliche Erscheinungen ist heute noch weit verbreitet, was nicht heißen soll, dass die jungen Darsteller daran festhalten. Bemerkenswert erscheint mir jedoch der selbstverständliche Umgang mit der kollektiven Imagination.
Neben der „Botschaft“ des Stücks leisten auch Ausstattung und Inszenierung einen Beitrag zur Reflexion über die eigene Kultur. Die Einfachheit der Mittel – Requisiten und Kostüme von zu Hause auf die Bühne transferiert sowie aus angemalter Pappe Hergestelltes – ermöglichen Wiedererkennung und Identifikation. Anspielungen auf Personen des Dorflebens sind beabsichtigt, aber nie bösartig: der ewig betrunkene Ermitano, die Besitzerin des Ladens an der Ecke, der stellvertretende Bürgermeister und die weise Dona Isabel sind für jeden Zuschauer Persönlichkeiten ihrer Dorfgemeinschaft. Bis ins Detail mit den Örtlichkeiten im Dorf übereinstimmende Wegbeschreibungen, die der Tod auf der Suche nach Francisca erhält, führen den Identifikationsfaden konsequent durch das Stück hindurch. Das Publikum geht mit, ist amüsiert und nimmt das Theater als möglichen Teil seiner Lebenswirklichkeit wahr.
TEATRO EN LA COMUNIDAD
„Teatro en la Comunidad“, Theater im ländlichen Raum, ist eine in Mexiko auf nationaler Ebene propagierte Theaterform. ‚TECOM‘ versucht, diese Form der Theaterarbeit in den Dörfern zu fördern und einem größeren Publikum vorzustellen. Ein verbindendes Moment der Projekte besteht in der Initiative weniger Einzelpersonen, die sich zusammentun. Die Rahmenbedingungen sind aufs Engste verknüpft mit den Lebensumständen der Mitwirkenden, Schule und Arbeit, die manchmal im Endprodukt, der Theateraufführung, direkt oder indirekt artikuliert werden.
Theateraufführungen dieser Art sind auch ein Forum für verschiedenste Anliegen, wie Aufklärung über bestimmte Themen (z.B. Gesundheit, Maßnahmen bei Wasserknappheit usf.), Diskussionsgrundlage für gemeinschaftsbezogene Themen, die Gleichstellung von Frauen, Kinder- und Jugendarbeit.
Die Maya Yukatáns sind stolz auf ihre Kultur. In Foren, Initiativen, in der Akademie für Mayatán, wo ihre Sprache lebendig erhalten wird, in Veröffentlichungen von Autoren, die in ihrer Muttersprache schreiben, Musik- und Tanzensembles leben sie neben aller Modernität ihre Traditionen. Das Teatro en la Comunidad kann ein Sprachrohr für ihre Anliegen sein und dazu beitragen, auch den Wandel zu reflektieren.